Wie wir auf Andersdenkende zugehen
Von Martin Kirchner – Durch die Gesellschaft, aber was können wir in Bezug auf Entfremdung und Spaltung tun? Gerade jetzt in Zeiten von Corona ist die Frage: Wie können wir Andersdenkenden mit Offenheit und Neugier begegnen? Wie können wir einander verstehen, auch wenn wir unterschiedliche Meinungen haben? Wie können wir Brücken bauen und auf Andersdenkende zugehen? Lerne dies und die vier Ebenen des Zuhörens als nützliches Werkzeug dafür in diesem Artikel.
Unsere unterschiedlichen Sichtweisen zu Corona und den Maßnahmen führen zunehmend zu Entfremdung und Spaltung in vielen „Feldern“ – in Gemeinschaften, Freundeskreisen und Familien.
Die Fragen rund um COVID19 und die Maßnahmen bewegen viele: Es geht oft nicht mehr um Wissen, sondern um eine hochemotionalisierte Glaubensfrage, an der sich wirklich die Geister scheiden. Krass sichtbar wurde dies erstmals rund um die „Corona-Demos“ in Berlin im letzten Sommer:
Die einen waren begeistert, viele waren schockiert von mangelnder Abgrenzung z. B. gegen Rechtsextreme oder „Reichsbürger“.
Es scheinen sich zwei Lager zu bilden:
- Die einen verunglimpfen Menschen, die besorgt um die eigene Gesundheit oder die von Nahestehenden sind oder die alle Maßnahmen gutheißen, als „Schlafschafe“, die „sich manipulieren lassen“ oder gar „noch nicht so entwickelt“ sind.
- Die anderen schimpfen auf die „rechten Covidioten mit Aluhut“ oder machen sie als „Pandemie-Pegida“ (Harald Welzer) lächerlich. Dabei werfen sie differenzierte und begründete Kritik mit den wildesten Verschwörungsideologien einfach in einen Topf.
Und so erwächst eine zunehmende Entfremdung, eine Eskalation der Trennung. Dies finde ich wirklich problematisch und insofern ist es mir ein Anliegen, dass wir einerseits die Mechanismen reflektieren und andererseits mithelfen beim “Brückenbauen”, beim De-Eskalieren und beim Herstellen eines „Common Ground“, einer gemeinsamen Basis, auf die wir aufbauen können.
Der Großteil von uns ist einfach verunsichert, überfordert von der Komplexität dieser Entwicklungen und hat ein großes Bedürfnis nach Orientierung. Ich bin überzeugt: Wenn die Stimmen von jeweils Andersdenkenden gehört werden, dann können Entwicklungen und Lösungen möglich werden, die von mehr „Weisheit“ und kollektiver Intelligenz getragen werden. Dann können wir als Gesellschaft zusammenkommen und unseren Blick auf die anderen grundlegenden Herausforderungen unserer Zeit lenken und gemeinsam neue Lösungen entwickeln.
Ähnliche Muster bei beiden Seiten ...
Was beide Seiten gemeinsam zu haben scheinen, ist das große Unverständnis für „die andere Seite“ und eine gegenseitige Abwertung und Schubladisierung, basierend auf „absoluten Urteilen“. Beide Seiten tendieren zu einfachen Antworten in einer komplexen Gesamtlage und übergehen dabei oft die Anliegen der anderen Seite. Der Mangel an Empathie wirkt dabei wie eine Form von Gewalt eskalierend. Die Herzen und das Denken scheinen sich zu verschließen gegenüber den jeweils anderen. Otto Scharmer unterscheidet zwischen „Open Mindset“ und „Closed Mindset“– beide sind sowohl in rechten als auch in linken politischen Gesinnungen zu finden, im progressiven wie auch im konservativen Milieu. Mir scheint, diese Pole eines offenen und geschlossenen Denkens werden auch angesichts von Corona deutlich. Sie gibt es auch bei Menschen, die sich als spirituell empfinden, bei Künstler*innen, bei zivilgesellschaftlich Engagierten – quer durch alle Szenen.
Können wir die Komplexität aushalten, ohne gleich zu einfachen Erklärungen und Urteilen überzugehen? Können wir auf Andersdenkende zugehen? Können wir einander wertschätzend und mit einer fragenden Haltung begegnen, wo wir nicht im Vorhinein durch unsere absoluten Urteile ein „closed mind“ haben? Können wir sogar einem „closed mind“ mit Wertschätzung begegnen und auch etwas Wertvolles darin sehen? „Open“ ist so nicht ein Gegensatz zu „closed“ – das neue “Open” ist die Überwindung der Gegensätze, die ausgehaltene Ungewissheit, die Toleranz des
Chaos. „Absolute Urteile machen es unmöglich, in Beziehung zu treten“, sagt Vivian Dittmar . Solange ich der Meinung bin, dass MEINES absolut richtig ist, erzeuge ich eine Wut, die zerstörerisch ist. „Wir sind gefordert, in uns aufzuräumen, vor der eigenen Türe zu kehren und unsere Haltung zu reflektieren“, sagt Vivian. Es ist wichtig, unserer eigenen Absolutheitsansprüche gewahr zu werden, zu erkennen, wo wir selbst ein „closed mind“ haben. Forsche mal bei dir nach, ob du so etwas in der Art in dir trägst: „Ich bin reflektiert und die anderen sind verblendet.“ „Ich bin die gute Öko-Aktivistin – und die anderen (Konzerne, Politiker*innen, …) sind böse.“ „Ich habe mich informiert bei den richtigen Quellen, die anderen lassen sich manipulieren.“ Oder was sind ähnliche Sätze, die in dir wirken? Mal ehrlich?
Nun ergeben sich daraus wichtige Fragen, wie zum Beispiel:
- Wie kann ich meine eigenen Urteile über andere Menschen und Gruppen transformieren?
- Wie kann ich mit Andersdenkenden einen „Common Ground“ finden, auf dessen Basis ich trotz unterschiedlicher Sichtweisen in Verbindung gehen kann?
- Was sind die Grenzen im Kontakt mit Andersdenkenden – wo will ich mich mit einer klaren Abgrenzung positionieren?
Wie können wir Andersdenkenden mit Offenheit und Neugier begegnen?
„Es macht keinen Sinn, ich dringe einfach nicht zu ihr durch.“ Vermutlich kennst auch du das, dass du im Gespräch mit einer andersdenkenden Person zu diesem Schluss kommst. Dass ihr aneinander vorbeiredet oder dass sich gar etwas verhärtet zwischen euch. Dann kannst du dich fragen: Auf welche Art und wie tief hörst du eigentlich zu? Bist du ernsthaft bereit zu erfahren oder gar zu spüren, was dein Gegenüber bewegt? Oder willst du die andere Person eigentlich von etwas überzeugen, vielleicht sogar von der „Wahrheit“?
Otto Scharmer unterscheidet vier Ebenen des Zuhörens. Er nennt als entscheidendes Kriterium die Qualität der Aufmerksamkeit.
Die vier Ebenen des Zuhörens
Wenn wir Brücken bauen wollen zu Menschen, die anders denken, Dann ist die Qualität unserer Aufmerksamkeit entscheidend.
Nach Otto Scharmer, interpretiert von Martin Kirchner – Pioneers of Change
Wie hörst du zu?
Nimm dir doch kurz Zeit, rufe dir schwierige Gespräche mit andersdenkenden Personen in Erinnerung und reflektiere: Auf welcher Ebene hast du jeweils zugehört? Natürlich ist es auch von deinem Gegenüber abhängig, inwiefern eure Kommunikation gelingt. Du kannst einen „schöpferischen“ Dialog nicht alleine herstellen, sondern das ist ein gemeinsamer Tanz. Aber: Wenn du es zum Beispiel schaffst, deinem Gegenüber echte Empathie entgegenzubringen, dann erhöhst du massiv die Chance, dass sich die andere Person öffnet und schließlich auch dir wirklich zuhört, so dass ein echter Dialog stattfinden kann. Es wird nicht immer und mit jeder Person funktionieren, aber es erhöht definitiv die Erfolgsaussichten für gegenseitiges Verständnis und dass sich dadurch vielleicht wirklich etwas verändert – und zwar sowohl in der anderen Person als auch in dir.
Verstehen heißt nicht zustimmen
Immer wieder erlebe ich in schwierigen Gesprächen diesen magischen Moment: Wenn sich meine Gesprächspartner*in ernst genommen und dann „gehört und gesehen“ fühlt in Bezug auf das, was ihr wichtig ist … Dann lockert sich etwas. Die Emotionen und der Körper entspannen sich und das „Feld“ zwischen uns wird weicher, durchlässiger. Vor allem wenn uns die Menschen am Herzen liegen, mit denen wir eine Meinungsverschiedenheit haben, ist unser Wunsch nach „Verstanden werden“ von geradezu brennender Wichtigkeit. Vor allem wenn wir wirklich
emotional sindund in unserem Film hängen, dann entsteht in uns oft die Bereitschaft oder Kapazität, die jeweils andere Sichtweise zu hören, erst wenn unsere Anliegen und Bedürfnisse gewürdigt werden. Andere tief zu verstehen, heißt nicht, dass wir inhaltlich derselben Meinung sein müssen. Ganz und gar nicht. „Ich verstehe, dass das für dich so ist“, heißt nicht, dass es bei mir auch so sein muss. Ein Anliegen bzw. Bedürfnis zu würdigen, heißt auch nicht, dass wir es erfüllen müssen oder dass wir einer konkreten Umsetzungs-Strategie zustimmen. Und trotzdem: Meine vielfache Erfahrung ist, dass es allein schon einen Unterschied in der Qualität des Gespräches macht, wenn ich innerlich um dieses Verstehen der dahinterliegenden Anliegen des Gegenübers ringe, auch wenn ich das dann vielleicht gar nicht ausspreche.
Common Ground finden
Eine der hilfreichsten Schlüsselunterscheidungen aus der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg ist für mich die Differenzierung von Bedürfnis und einer Strategie zur Erfüllung eines Bedürfnisses. Wir streiten oft auf der Ebene konkreter Strategien, auf die wir uns fixieren. Zum Beispiel ob wir Masken tragen sollen oder eben nicht, ob sie uns schützen oder ob sie unserer Gesundheit schaden. Für jede Seite gibt es Argumente (und viel Halbwissen) – in der Diskussion darüber können wir uns ob der scheinbar gegensätzlichen Positionen richtig verheddern, sie kann emotional schwer eskalieren. In diesem Beispiel kann uns die oben erwähnte Differenzierung helfen, unsere Gemeinsamkeiten zu erkennen, was die Anliegen / Bedürfnisse hinter diesen Strategien betrifft. Auf der abstrakteren Ebene der Bedürfnisse können wir so einen „Common Ground“ finden. Beiden Seiten geht es beim Umgang mit den Masken um universelle menschliche Bedürfnisse wie Gesundheit und auch um eine Form von Rücksicht; ja sogar Freiheit ist uns allen wichtig. Diese gemeinsamen Anliegen beim Gegenüber erstmal auch anzuerkennen, dies zu würdigen, hilft für die Verbindung zwischen uns. Wenn wir die Basis haben, „Ja, das wollen wir beide“, dann können wir eher über Unterschiede sprechen: was wir wirklich unter Freiheit verstehen oder über mögliche Fakten zum Thema. Das Ernstnehmen der unterschiedlichen Anliegen kann zu neuen, differenzierteren Strategien und zu Lösungen führen, die viele Perspektiven integrieren und dadurch weiser sind.
Wie transformieren wir eigene Urteile?
Manchmal stehen uns unsere Urteile, die wir über andersdenkende Menschen haben, im Weg. Nehmen wir zum Beispiel „Verschwörungstheoretiker*in“ – oder andererseits „unkritische Mitläufer*in“. Wenn ich das in mir trage und jemanden pauschal damit abwerte, dann behindert das einen freien, wertschätzenden Dialog, dann bleibe ich auf der Ebene des Downloadings im Modell von Otto Scharmer. Wenn wir das für uns erkennen, dann hilft es, wenn wir eine innerliche Lockerungsübung machen:
unsere eigenen Anliegen und Bedürfnisse erkennen, die hinter diesen Urteilen liegen, und was uns hier wirklich wichtig ist. Zum Beispiel kann mir wichtig sein, dass „sich Menschen differenziert informieren“, „sich Quellen aussuchen, wo Themen von mehreren Seiten betrachtet werden“, wo „ein klarer Unterschied gemacht wird zwischen Glauben und Wissen“, wo „komplexe systemische Dynamiken nicht auf einfache Antworten mit Schuldigen oder Sündenböcken reduziert werden“ etc.
Wenn wir unsere Werte und Anliegen hinter unseren Urteilen erkennen, dann hilft uns das, unsere Urteile zu „übersetzen“. Wir kommen von fixen Schubladen (dass die andere Person eindeutig ein X ist) hin zu einer prozessorientierteren, flüssigeren, differenzierteren Sprache. Wenn wir diese innere Übersetzungsarbeit geleistet haben, dann können wir eher eine Brücke bauen zu andersdenkenden Menschen, die sonst mein hartes, inneres Urteil spüren und sich ebenso verhärten.
Wo lohnt sich der Einsatz?
Wir leben in einer Welt, in der Weltbilder und Wahrheiten auseinanderdriften. Vielfach erleben wir heute Menschen, die völlig destruktiv kommunizieren. Es fehlt der Wille zur Verständigung. Bisher in unserer Gesellschaft geltende Konventionen werden völlig über Bord geschmissen (z. B. was Wahrheit und Anstand betrifft). Wo sollen wir also damit beginnen, für Toleranz und Verständnis einzustehen? Wo ist es den Versuch wert, eine Brücke zu bauen, und wo vergebene Liebesmühe? Wenn Menschen schon ganz festgefahren sind in einer Meinung, dass wir alle einer großen Verschwörung der dunklen Machtelite aufsitzen und mit einem jahrhundertealten Masterplan manipuliert werden, inwiefern macht es Sinn, sich zu bemühen? Für mich persönlich ist ein wichtiges Prinzip, hineinzuspüren, wo ich meine Energie investiere. In der Permakultur habe ich den für mich wichtigen Leitsatz gehört „work where it counts“. Wie sehr liegt mir die Person am Herzen? Und ganz entscheidend: Ist das Setting überhaupt so, dass es eine Chance gibt für einen wirklichen Kontakt, gegenseitiges Verstehen und Veränderung? Je nachdem entscheide ich.
Um gut Brücken bauen zu können, brauchen wir einen guten inneren Zustand, wo wir mit uns selbst gut verbunden sind, uns gut spüren. Auch wo unsere ganz persönlichen Grenzen gerade im jeweiligen Moment sind. Wir müssen nicht IMMER Brücken bauen, nicht IMMER die anderen hören, nicht IMMER unsere Feindbilder transformieren. Seien wir mindestens so empathisch und liebevoll mit uns selbst, wie wir es gern anderen entgegenbringen wollen. Ein Tipp von meiner Kollegin Stephanie für schwierige Gespräche mit Andersdenkenden:
„Stell dir um dich eine Glaskugel vor, werde dir deines eigenen Raumes bewusst und prüfe, wen willst du wie nahe zu dir lassen. Das Fundament für ein gelingendes Brücken-Bauen ist, dass du gut für dich selbst sorgst.“
Und so möchte ich mich zum Schluss bei dir bedanken, dass du bis zu Ende gelesen hast und dass bestimmt auch du kleine Brücken baust im Rahmen dessen, was gut für dich möglich ist.
Dieser Artikel und viele weitere zu diese Thema ist Teil des Magazins No. 21 VERBUNDENHEIT.
Martin Kirchner ist Initiator und geschäftsführender Obmann von Pioneers of Change. Er entwickelte nach vielen Jahren Engagement im Global Ecovillage Network das Projekt Cohousing Pomali, wo er seit Ende 2013 mit seiner Frau und drei Kindern lebt. Pioneers of Change bietet tiefgreifende Seminare zur eigenen Potenzialentfaltung an.
Foto: Martin Kirchner