WIR und die anderen - Wie wir uns wieder miteinander verbinden
von Friedrich Assländer – Über die Ursachen der Trennung und Möglichkeiten zur Verbindung miteinander. Mit der Übung „Genau wie ich!“ erlernst du dich innerhalb weniger Minuten mit anderen zu verbinden. Denn: nach Verbundenheit sehnen wir uns alle.
WIR und die Nicht-WIR
WIR-Deutsche, WIR–Bayern, WIR-Christen, WIR-Republikaner, WIR Frauen, WIR–Wissenschaftler, … Diese Liste ist vermutlich unendlich. Bei diesem WIR schwingt oft mit, WIR, das sind die Besonderen, die Guten, die Besseren, die Edlen. Das ist gefährlich, denn dann sind automatisch und implizit die anderen die Dummen, die Bösen, die Underdogs.
WIR erkennen uns an der Sprache, am Dialekt, an der Kleidung, an Abzeichen, an der Wortwahl, an unseren Werten, Zielen und Glaubenssätzen. Es gibt klare Merkmale, die die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, zum WIR zeigen, die für Außenstehende, manchmal auch nur für Eingeweihte, erkennbar sind. Damit grenzen WIR uns von den anderen ab, den Nicht-WIR, die nicht zu uns gehören.
Was ist der Sinn einer solchen Abgrenzung? Sind wir nicht alle einfach Menschen? Und alle Geschöpfe Gottes, wenn wir an ihn glauben? Sind wir nicht alle gleichwertige Teile eines größeren Lebens, das um uns herum ständig stattfindet, als Grundlage unseres eigenen Lebens?
Grenzen und damit auch jede Form der Abgrenzung schaffen Identität und Zugehörigkeit und geben damit eine, wenn auch nur oberflächliche, Antwort auf die zentrale Frage des Menschen: Wer bin ich? Diese Identität hat Vorteile für das menschliche Miteinander. Sie gibt mir und anderen Orientierung.
Sätze wie „Ich bin Arzt“, „Ich bin Journalist“, „Ich bin Wissenschaftler“ weisen uns als Träger besonderer geistiger und sozialer Merkmale aus, die uns privilegieren, aber auch verpflichten, was im sozialen Miteinander durchaus sinnvoll sein kann. Einen Polizisten kann ich um Hilfe bitten, bei einem Dr. rer. nat. kann man naturwissenschaftliche Kenntnisse vermuten. Gruppen, ob Berufsgruppe, Vereine oder ethnische Zugehörigkeiten schaffen eine erkennbare Ordnung und geben Orientierung, was ich erwarten und bekommen kann. Damit können wir Vertrauen entwickeln, aber nur in dem Maße, wie die Mitglieder einer Gruppe deren Wertekodex beachten.
Die Menschen werden dir vertrauen,
wenn sie bei dir auf Werte schauen.
Dem Einzelnen geben Gemeinschaften Sicherheit, Schutz und Geborgenheit. Gruppen liefern aber auch Regeln, moralische Maßstäbe und Denkstrukturen, die zur Aufrechterhaltung dieser Gemeinschaft erforderlich sind. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe gibt dem Einzelnen einen Platz in der Gesellschaft, oft auch einen Rang und Sinnhaftigkeit.
WIR sind etwas Besonderes
WIR, in diesem Sinne, nährt oftmals unser Ego. Die Zugehörigkeit gibt in vielen Fällen Status und Bedeutung. Ich fühle mich als etwas Besonderes. Nicht nur in der deutschen Geschichte, in vielen Kulturen und Gruppen wird das WIR erhöht durch Abwertung der anderen. In der Folge entsteht eine eigene Moral als Gruppennorm, die erlaubt, die Anderen, die Minderwertigen, schlecht zu behandeln. Historisch zeigte sich das z. B. in der Sklaverei, im Holocaust. Das erleben wir im Umgang mit Tieren, im Verhältnis der Weißen zu den Farbigen, im Umgang mit „Ausländern“ und an vielen anderen Stellen.
Besonders markant zeigt sich die Selbstüberhöhung in den Religionen, wenn wir die anderen etikettieren, z. B. als „Ungläubige“ oder „Heiden“. Diese dürfen wir dann im Heiligen Krieg töten, wie in den Kreuzzügen oder noch heute im Dschihad. Das gilt dann als gottgefällig und als gutes Werk. Auf diese Weise wird das eigentlich Menschliche, das Mitgefühl oder die im Christentum gepriesene Nächstenliebe im Bewusstsein dieser „frommen Menschen“ ausgelöscht. WIR halten uns für gut, sind aber im Kern Barbaren, die das Leid und das Leiden der anderen nicht mehr sehen und spüren.
Warum machen wir das? Die Psychologie weiß schon lange, dass wir die eigenen Defizite und Minderwertigkeitsgefühle abspalten, auf andere projizieren und sie dann im Außen bekämpfen.
C.G. Jung nannte das Abgespaltene, das Nicht-Bewusste den Schatten, den wir nicht sehen, der aber wirksam und oft unheilvoll in unsere Lebensgestaltung eingreift. Wir finden ihn dort, wo wir andere respektlos, abfällig oder abwertend behandeln. Es ist eine unserer wichtigsten Lebensaufgaben, diesen Schatten zu erlösen, unsere „hässlichen“ Seiten anzuschauen und zu integrieren, statt sie im anderen zu sehen und dort zu bekämpfen. Der andere ist der Spiegel, der uns zeigt, was uns fehlt. Erst wenn wir dieses annehmen, werden wir wieder vollständig und heil. Der heilige Benedikt sagt dazu:
Der Abt heile zuerst sich selbst.
Erst mit dieser inneren Freiheit von unseren Projektionen können wir den Schritt zur Verbundenheit mit anderen beginnen, zum größeren WIR.
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Das größere WIR - Übung
WIR wird zu einem spirituellen WIR, wenn wir jedem anderen den gleichen Respekt, dieselbe Wertschätzung, Dankbarkeit und Liebe entgegenbringen, die wir selbst gerne bekommen möchten.
Es gibt eine schöne Seminarübung, die uns hilft, unsere Abwertungen von anderen aufzulösen. Diese Übung lässt sich jederzeit und überall – auch alleine – machen.
Suche dir eine Person im Geiste aus, die du unsympathisch findest. Mit geschlossenen Augen beobachte dabei im Inneren deine Gedanken und Empfindungen, die auftauchen, wenn du an diese Person denkst. Lies dann die folgenden Sätze:
– Genau wie ich hat dieser Mensch im Leben Leid und Verletzungen erfahren.
– Genau wie ich ist dieser Mensch ungerecht behandelt worden
– Genau wie ich sehnt sich dieser Mensch nach Liebe
– Genau wie ich sehnt sich dieser Mensch nach Vollkommenheit
– Genau wie ich hat dieser Mensch Sorgen und Probleme
– Genau wie ich leidet dieser Mensch unter seinen Unvollkommenheiten
– Genau wie ich möchte dieser Mensch sein Bestes geben
– Genau wie ich wurde dieser Mensch missverstanden und verurteilt
– Genau wie ich sehnt dieser Mensch sich danach, verstanden zu werden
– Genau wie ich möchte dieser Mensch geachtet und gesehen werden
– Genau wie ich hat dieser Mensch seine Lebensgeschichte mit Verletzungen und Wunden
– Genau wie ich sehnt sich dieser Mensch nach Liebe und Zuneigung
– Genau wie ich wünscht sich dieser Mensch, dass man ihm offen und ohne Vorurteile begegnet
– Genau wie ich sehnt sich dieser Mensch nach Anerkennung und Wertschätzung
– Genau wie ich macht dieser Mensch Fehler und wünscht sich Vergebung
– Genau wie ich hat dieser Mensch als Kind auch schweres erlitten
Genau wie ich…
Was verändert sich in deinem Empfinden gegenüber diesem Menschen, wenn du dir das alles bewusst machst?
Ein Bewusstsein von „GENAU WIE ICH“ führt uns zu den Bedürfnissen des anderen, zu seinen Gefühlen und Empfindungen, zu seiner Lebensgeschichte, die vielleicht sogar dramatischer ist als meine. Es verändert meinen Blick auf den anderen, der nun zum Bruder oder zur Schwester wird.
„GENAU WIE ICH“ haben auch Tiere, Pflanzen, auch Mineralien ein Leben, Bedürfnisse und Bewusstsein. Diese Sätze helfen, das Bewusstsein vom Wert dieses Lebens um uns herum immer mehr zu erkennen. Mein persönlicher tiefster Wunsch ist, dass wir wieder gegenüber allem, was ist, Respekt entwickeln. Im Respekt schaffen wir eine positive Beziehung auf der Basis von Würde und Wohlwollen. Nur über Respekt entstehen zu allen und zu allem gute Beziehungen. WIR Menschen stehen nicht über den ANDEREN Lebensformen, sondern wir sind EINE Gemeinschaft.
Im Biotop gedeiht das Leben,
weil alle gerne allen geben.
Vom Wir-Besonderen zum WIR-alle
Dieses „Neue WIR-alle“ steht in Konkurrenz zum Denken der Egomanen und Autokraten, der Menschen, die nur sich selbst sehen, sich selbst ständig erhöhen. Sie können diesen Schritt „GENAU WIE ICH“ nicht machen, weil sie an ihrem Überlegenheitsgefühl zwanghaft und angstgetrieben festhalten. Aktuell ist das im „Trumpismus“ sichtbar, der den Wunsch vieler Amerikaner nach Überlegenheit, nationalistisch, evangelikal und ethnisch bedient. In der Nazi-Ideologie, im Kolonialismus und andernorts finden wir weltweit Denksysteme, die die Überlegenheit des WIR suggerieren und Unterdrückung der anderen rechtfertigen. Als sog. Sinozentrismus findet sich das auch im Selbstverständnis der Chinesen, die sich für die überlegene Rasse halten. So steht in der Bibel:
„Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt,
und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“
– Evangelium nach Matthäus (Mt 23, 12) –
In der Frühzeit der Menschheit war die Zugehörigkeit zu einer Sippe die einzige Überlebensmöglichkeit in einer wilden und feindlichen Umwelt. Heute können wir nur als ganze Menschheit überleben oder untergehen. Das WIR ist ein großes Ganzes. Diese notwendige Verbundenheit mit einem größeren WIR entwickeln wir, wenn wir das Andersartige bei den anderen als Bereicherung sehen. Vielfalt ist nicht nur schön, wie wir das bei Pflanzen oder Tieren erkennen können, sondern auch für jedes System stabilisierend. Als Voraussetzung dafür müssen wir unsere Ängste, die oft aus Vorurteilen und Unwissenheit resultieren, überwinden. Eine therapeutisch-spirituelle Aufgabe.
Der Weg aus der Sackgasse des „WIR-Besonderen“ und die Lösung für die heutigen Menschheitsfragen geht über das Bewusstsein von „WIR-alle“ hinaus. Indem WIR unsere Gedanken auf das Gute, das Bereichernde im anderen richten und auf das Wertvolle, das in jedem Menschen und in jedem Wesen angelegt ist, gehen wir diesen Weg zum „neuen Wir“. Damit laden wir dieses ein, sich zu entfalten. Kaufmännisch nennt man das einen „Mehrwert für alle“. Mein Leitsatz dazu für den Alltag lautet:
Vermehre stetig Gutes, Schönes,
dann ist kein Platz für Dunkles, Böses.
Dieser Artikel ist Teil des Magazins No. 21 VERBUNDENHEIT.
Friedrich Assländer studierte Betriebswirtschaftslehre, Soziologie und Psychologie und ist Vater von 4 Kindern. Nach 10 Jahren Managementtätigkei in einem Finanzkonzern ist er seit 1984 selbstständiger Trainer und Unternehmensberater. Er verbindet Spiritualität und Wirtschaft in seinen Führungsseminaren und leitet Ausbildungen in Systemaufstellungen. Er ist mitbegründer und langjähriger Vorstand der Vereine „Spirituelle Wege“ und „spirit plus„. Gemeinsam mit Pater Anselm Grün leitete er die erfolgreiche Kursreihe „Führen und geführt werden“ und verfasste mehrere Bücher.
Foto: Friedrich Assländer